Eintrag 31011

Ich sitze neben dem Bett. Darin der Mensch, der mir beigebracht hat, die Schuhe zu binden, gezeigt hat, dass bei Rot über die Ampel zu gehen nur dann ok ist, wenn wirklich kein Auto zu sehen ist. Dieser Mensch hatte einen Plan, dieser Mensch konnte Antworten geben. Ich sitze neben dem Bett. Ich sitze hier und ich weiß nicht, was ich tun soll. Warten. Hoffen und gleichzeitig wissen, dass das Hoffen sich hier nicht lohnt. Es drückt, es zieht, ich bin überfordert. Ich würde so gerne … , aber ich weiß nicht wie.

So oder so ähnlich kann es sich anfühlen, als Angehörige oder Bezugsperson bei einem Besuch auf der Hospizstation. So viel, wie mit dem Leben, der Geburt und dem Neuen, so wenig fokussieren wir eine andere Veränderung im Leben eines jeden Menschen: das Sterben.

Bitten Stetter hat in ihrer partizipativen Feldforschung in palliativen Einrichtungen mit Patient:innen, Pflegenden, Angehörigen und Ärzt:innen gesprochen und Bedarfe sowie Lücken entdeckt, die sie mit ihrer Arbeit decken und schließen möchte.

Wenn Menschen an Kraft verlieren und unter ärztlicher Begleitung sind, schrumpft ihr Erlebens- und Handlungsraum auf wenige Quadratmeter in einem begrenzten physischen Raum– ein Pflegebett, ein Nachttisch. Der Blick aus einem Fenster oder an die Decke rahmen dann häufig den visuellen Horizont von den Personen.

Wer kümmert sich darum, worüber niemand reden mag? Wer offeriert Care?

Wir wissen über den Gender Care Gap. Wir wissen von sozialem Druck und gesellschaftlichen Geschlechter-Rollenbildern. Was bedeutet das für die Versorgung von Menschen, die Anspruch auf eine spezialisierte Versorgung haben, wenn keine Aussicht mehr auf Heilung besteht? Diese wichtige Arbeit findet zu Hause, im Krankenhaus, in Pflegeheimen oder im Hospiz statt.

Die von Bitten Stetter entwickelten Produkte bedienen sich der Analysen aus der Feldbeobachtung vor Ort und ignorieren dabei keine Geschlechtlichkeit, sondern greifen Bedarfe und Bedürfnisse nach ihrer Relevanz auf und münden dann in Produkten, die gendersensibel gestaltet sind: Der Care Cup, die Bettbox oder auch die Travel Wear sind mit ihrer Schlichtheit extrem nutzer:innenorientiert, zum Teil individualisierbar und vorallem mit den Rahmenbedingungen eines Aufenthalts in einer Palliativ-Station abgestimmt – dadurch versprechen sie eine hohe Inklusivität auch in dem Arbeitsalltag der Pflegenden vor Ort. Es geht um Berührung und Körperkontakt, der mit Hilfsmittel im wahrsten Sinne abgefedert wird, die räumliche Nähe zu persönlichen Gegenständen, die Autonomie und Wohnlichkeit beherbergen. Genauso wie die Möglichkeit eines Individualraumes, der Sichtschutz vor Krankenhausalltag und grellem Licht ermöglicht und mit seiner Stofflichkeit einen warmen und gemütlichen Rückzugsort schafft. Artefakte zur Einbindung persönlicher Erinnerungsstücke in der Architektur des Palliativraumes sind dabei individuell gestaltbar und auch Unterstützungsobjekte zur Begleitung in einem Gespräch mit Sterbenden sind im Angebot im menschenzentrierten Produktdesign bei „finally“.

Diese Arbeitsweise und die Arbeitsergebnisse von Bitten Stetter ermöglichen ein erweitertes Denken zu den Themen Sterben und Tod und damit auch einen Perspektivwechsel, der für Designer:innen ein neues Handlungsfeld öffnet - finally.
Aus Sicht der Jury gelingt es durch die Arbeiten von Bitten Stetter mit ihrem Label Final Studio einen multimodalen Ansatz mit Interventionen zu etablieren, in dem Wohlergehen, die Autonomie und die Selbstständigkeit von Menschen bei ihrer letzten Reise geschützt werden.

Der iphiGenia Gender Design Award Evolution wird an etablierte oder junge Unternehmen, Agenturen oder andere Initiativen vergeben, die sich explizit für gendersensibles Design einsetzen und deren Arbeit eine ganzheitliche, überzeugende Herangehensweise an dieses Thema mit Exzellenz in Design und Ausführung verbindet. Wir freuen uns sehr, Bitten Stetter und ihr Team für die Arbeit „finally“ mit dem iphiGenia Gender Design Award in der Kategorie Evolution auszuzeichnen.