Uniformen des Kranken

Jedes Kleidungsstück basiert auf (Körper-)vorstellungen, die durch gesellschaftliche Moden, moralische Wertevorstellungen wie auch medizinische und gesundheitspolitische Überlegungen geprägt sind. Menschen werden durch Kleider geformt.

Mit Kleidung können wir spielen und selbstbestimmt wählen, ob wir Botschaften über Körper, Geist und Lebensstil zeigen oder verdecken möchten. Kleidung ist somit nie nicht-designt und kann auch «nicht nicht-kommunizieren». Wird ein Mensch zu bestimmter Kleidung gezwungen, etwa im Dienst (Militär, Pflege) oder in fragilen Umständen wie bei Krankheit, kann dies verändernd auf das Selbstverständnis einwirken. Dies kann durchaus erwünscht sein, aber auch zu Konflikten führen, die wir im Extremfall als «vestimentäre Übergriffe» wahrnehmen können. In Settings, wo das Tragen spezifischer Kleidung nicht autonom und selbstbestimmt, sondern der Rationalität des Kontextes geschuldet ist, wie im Falle eines Krankenhaus-Aufenthalts, können die psychologischen Kosten hoch sein, da die wechselseitigen Relationen (Kleid, Mensch, Gruppe, Kontext) zu Entfremdung führen können. Das Tragen von Kleidung bleibt daher nie folgenlos. Das Pflegehemd bildet hier keine Ausnahme. Es sendet wie alle körpernahen Textilien Botschaften, auch wenn es vor allem unter gesundheitspolitischen und funktionsorientierten Vorstellungen kreiert, produziert und vermarktet wird. Auf der Website von pflegeoverall24.de (20219 wird ein Modell beispielsweise wie folgt beschrieben: «Durch das offene Rückenteil mit praktischen Bindeverschlüssen im Nacken- und Hüftbereich wird Pflegezeit eingespart und Arbeitsabläufe in der Pflege enorm vereinfacht.» Klar im Vordergrund stehen Vorteile wie «schnelles An- und Ausziehen ohne Aufsetzen des Patienten» (ebd.). Der funktionale Anspruch wendet sich dabei, anders als bei anderen Kleidern, nicht an die Träger*in des Kleidungsstückes, sondern an eine andere Nutzergruppe: die Pflegenden oder an dritte Care-Personen. Dieser veränderte Fokus wird in der Uniformität des Designs und in der Funktionsgestaltung des Pflegehemdes sichtbar, so dass wir das vestimentäre Objekt auch als Uniform des Kranken ansehen können, welches nicht zwingend „nur“ der Träger:in dient.

Während dienstliche Uniformen wie die weissen Überkleider der Ärzt:innen Identifikationsangebote und Zugehörigkeit offerieren, bietet die Uniform des Kranken dies nur bedingt. Auch sozialen Status kann ein Pflegehemd nicht vermitteln. Im Kontext von Palliative Care, wo Heilung nicht im Zentrum steht, scheint dies besonders relevant. Anders als bei akuten Krankheiten und kurzfristigen medizinischen Interventionen, zwingt die Irreversibilität der Krankheit und die daraus resultierende Pflegebedürftigkeit Menschen dazu, ihre brüchigen Körperidentitäten neu zu gestalten. Das Re-Design des vulnerablen Selbst hat wie der Begriff Palliative Care materiale Dimensionen, denn als vestimentäre Metapher verweist das «Pallium» (lat.) auf einen mantelähnlichen Umhang, der sich im Sinne des Care- Begriffs fürsorglich um schwerkranke Körper und brüchige Identitäten legt (oder legen soll). Ob die globale Krankenuniform als schützendes oder verletzendes care apparel verstanden werden kann, ist dabei eine Frage, die sich sicherlich nicht pauschal und allgemeingültig beantworten lässt. Schliesslich leben wir in einer hyperindividuellen Welt, in dem jeder Mensch nicht nur individuell sein Leben lebt, sondern ebenso sehr individuell erkrankt und am Ende seiner Tage das Leben sehr individuell verlässt. Um so wichtiger erscheint es sich im Wandel der Zeit und des Gesundheitssystems über persönliche und institutionelle Care-Textilien Gedanken zu machen, da hautsinnliche erfahrbare Textilien nicht nur unsere Körper umhüllen, berühren, camouflieren, und schützen, sondern auch Aussagen über unser individuelles , wie auch gesellschaftliches Wertesystem treffen. Care-Textilien treten also nicht nur in den Austausch mit uns selbst, sondern auch in den Austausch mit anderen. Damit evozieren auch diese spezifischen Kleidungsstücke bestimmte Handlungen und Nicht-Handlungen und geben, wie jede andere Mode auch, wichtige Informationen non-verbal Preis. Dies können wir nicht vermeiden, ganz gleich in welcher Lebenssituation wir uns befinden, ganzgleich ob wir unsere Identitäten durch Alltagskleidung, Berufsbekleidung Fest- oder Krankenkleidung konstruieren, ganz gleich ob wir stehen, gehen, tanzen oder in Spitalbetten liegen.

Footnote: Dieser Textausschnitt stammt in grossen Teilen aus dem Buchbeitrag „Das letzte Hemd hat (noch) keine Taschen. Eine design-anthropologische Untersuchung des Patientenhemdes von Bitten Stetter,“ erschienen in der Buchpublikation „Kontext Sterben“ herausgeben von Corina Caduff, Francis Müller, Eva Soom Ammann und veröffentlicht bei Scheiddegger & Spiess , Zürich 2022.